Ich habe den Film "Fight Club" sehr gemocht. Bis heute hat sich das nicht geändert. Am meisten beeindruckt hat mich dabei vor allem, wie Edward Norton immer in diverse Selbsthilfegruppen gegangen ist, wo er in den Armen lauter schwitzender, wabbelbäuchiger Loser Erlösung, Vergebung und Seelenfrieden gefunden hat. Edward Norton war natürlich extrem cool und diese ganzen Käsegesichter, die sich in schlecht beleuchteten Kellern über Prostatakrebs, Alkoholismus, Gewalttätigkeit in den Armen Fremder ausgeheult haben, waren genau das Gegenteil. Wer hat schließlich schon Probleme, die man vor Fremden unter Neonbeleuchtung ausbreiten muss? Es war ja auch nicht so, dass Edward Norton ein Problem hatte. Er war vielleicht von Schlaflosigkeit zerfressen und hatte zeitweise vergessen, dass er sein Alter Ego in den Körper von Brad Pitt ausgelagert hatte, aber andererseits ... wer hat das nicht?
Viele Jahre nach Fight Club klingelt mein Telefon und noch bevor der Anrufer anfängt zu reden, weiß ich, was für eine Art Anruf das ist. "Hier ist Marie/Miriam/Myriel/Marta." Pause "Ich habe Ihre Nummer von der Website XY." Und nach diesen ganzen Jahren weiß ich, dass ich hier nicht einhaken darf. Obwohl fast alle Anrufer dieser Art das gerne hätten. "Ich rufe an wegen der Selbsthilfegruppe."
In "Fight Club" hätte Bob aka Meat Loaf die verlorenen Seelen jetzt bereits fernmündlich an die fette Brust gedrückt. Meat Loaf im realen Leben bin ich. Ich erkläre, dass wir uns unregelmäßig und mehr auf Wunsch oder Zuruf betroffener Eltern treffen. "Betroffene Eltern" fällt mir inzwischen ohne Stocken aus dem Mund. Ich erzähle locker von der Struktur der Treffen (gibts nicht), von Teilnahmebedingungen (nicht vorhanden), von Themen (alles geht) und von Ängsten (haben alle). Manchmal weinen die Anrufer dann, manchmal dauert das Telefonat zwei Stunden. Manchmal dauert es 5 Minuten und ich bin die Einzige, die redet. Ich strecke immer wieder die verbale Hand aus - nimmt sie jemand, ist es gut. Wenn nicht, dann auch.
Ich habe in den vielen Jahren meiner Selbsthilfegruppen-Patenschaft schon Hunderte dieser Anrufe entgegengenommen. Nicht immer kamen sie so, dass es mir gerade gepasst hat. Manchmal kommen sie auch auf dem Spielplatz, am Sonntag nachmittag, einmal kurz nach der Beerdigung meines Großvaters. Manchmal kommen sie so, dass ich vorher super gelaunt war und hinterher in den See gehen will. Manchmal will ich nicht ans Telefon gehen, wenn ich eine unbekannte Nummer auf dem Display sehe. Abgehoben habe ich aber bisher immer.
Ich habe die Leitung der Selbsthilfegruppe in meinem Lebenslauf stehen. Hört man ja immer, das gesellschaftliches Engagement so wichtig sein soll. Bei linkedIn steht sie auch drin. Angesprochen worden bin ich deswegen schon öfter - gerne bei Vorstellungsgesprächen und noch nie so, dass es nicht peinlich war. Wie das so wäre. Und: Was das so bedeuten würde. Und: Was man da so machen müsste.
Was man machen muss, ist in meinem Fall eigentlich einfach. Man muss sich über sehr viele Jahre sehr viele Bilder toter Kinder anschauen. Die meisten davon im Mutterbauch gestorben und tot zur Welt gekommen. Und wenn man sich die anschaut, dann muss man sehen können, was die Eltern sehen: Ihre Kinder, die schönsten Kinder der Welt. Perfekt, geliebt, gewollt, erwartet. Was andere Menschen eventuell sehen könnten, sind manchmal Kinder, die sehr schwer gestorben sind. Manchmal auch nicht. Dann schlafen sie einfach für immer - nur in den Herzen ihrer einsamen Eltern nicht, denn da leben sie weiter.
Ich erinnere mich an den ersten Abend, als ich selber an so einem Treffen teilgenommen habe. Auf dem Tisch haben Teelichter gebrannt und es gab heißes Wasser und Teebeutel nach Wahl. Und im Raum unter uns hat ein Chor geprobt. Ich habe erwartet, dass mir Meat Loaf aus dem Wandschrank entgegengesprungen kommt und mich in seine Schweißflecke unter der Achselhöhle klemmt. War aber nicht. Im Wandschrank war nur die Plastikbox, wo die Gruppenleiterin die Teelichter aufbewahrt hat. Und die fünf Jahre alten Schokokugeln, die bei jedem Treffen wieder auf den Tisch kamen, weil sich keiner getraut hat, Schokolade zu essen, wo es doch hier um tote Kinder geht.
Es ist genau diese Grundbetroffenheit, die bei Edward Norton seine Katharsis ausgelöst hat. Diese Blase, in die man sich während so eines Treffens begibt. Alle haben dasselbe durchgemacht, man könnte die Sätze des anderen ergänzen, obwohl man sich noch nie gesehen hat - weint einer, weinen alle. Aber auch unter dieser Oberfläche findet ein Wettkampf statt, den ich auch nach vielen Jahren noch gruselig finde. Ich habe nie sonst die Sätze gehört: "Und dann sind wir zu einer Psychologin gegangen und sie hat gesagt, dass wir das schon sehr gut machen. Und sie uns eigentlich gar nicht weiterhelfen kann." Dann kommt in der Regel ein Blick in die Runde und alle nicken zustimmend und beeilen sich zu sagen, dass es bei ihnen genau so war. Viele wollen Hilfe - keiner will Hilfe brauchen. Trauer ist heute so ein Zwischenbahnhof, den man genauso ableistet, wie den nächsten Karriereschritt und in dem man auch der Beste sein will. Wer trauert am Effektivsten, wer schont sich dabei garantiert nicht. Es ist manchmal furchteinflößend zu sehen, dass viele Menschen ihre Trauer genauso planen, wie den ersten Marathonlauf. Mit Schritten und Maßnahmen und Zwischenzielen.
Vielleicht sollte ich doch mehr Meat Loaf sein und sie mir unter den schwitzigen Arm klemmen und heulen lassen. Aber ich bin nicht die Hüterin der Trauer anderer Menschen. Und die toten Kinder anderer Eltern sind nicht meine. Dabei sind die Teelichter längst weg, es gibt keine Teebeutel mehr und Schokolade nur, wenn sie jemand zufällig mitbringt. Neulich hat mir eine spanische Teilnehmerin ein Stück geräucherten Schinken mitgebracht. Das fand ich wirklich toll. Weil es so lebensnah war. Bei unsere Treffen probt auch kein Chor mehr und den Raum habe ich irgendwann aufgeben, Meat Loaf im Wandschrank gelassen, genauso die Plastikboxen. Unter uns kreischen jetzt meine lebenden Kinder, die mal sehen wollen "wer da zu Besuch gekommen ist und was wir da so machen. Reden? Laaaangweilig.". Ich würde mich gerne irgendwo in einer Kneipe treffen. Oder in einem Café. Irgendwo, wo das Leben am Fenster vorbeiparadiert. Aber Trauer hat in der Öffentlichkeit keinen Platz und laut heulend in Diners sitzen kann man nur in amerikanischen Filmen. Ich finde das schade. Aber ich kann es nicht ändern. Ich kann auch nicht für andere Leute trauern. Und wie lange es dauert, kann ich nicht sagen. Und ich kann die toten Kinder nicht zurückbringen - aber ich träume oft von ihnen.