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Vom Leben und Sterben  

Von Irina

Der Physiker, das ist mein Bruder. Er ist Astrophysiker und wollte zu den Sternen fliegen, manche nannten ihn einen Nerd. Man konnte alles mit ihm machen, telefonieren, endlos quatschen, ihn um Rat fragen und welchen bekommen. Feiern, saufen, tanzen, Katerfrühstück machen. Freunde teilen, reisen, zusammen wohnen, frühstücken, sich Unverständliches aus der Physik erklären lassen und es verstehen. Mit ihm war es immer lustig und er war immer da. Zwei Kinder, ein Mädchen, ein Junge, ein Kopf und ein Arsch, von Anfang an.

Der Physiker hat eine Krankheit und die macht ihn fertig, seit Jahren. Wie fertig man werden kann, war mir vorher nicht klar, aber jetzt weiß ich es. Man kann alles verlieren, was man hatte, und es bleiben doch Körperfunktionen übrig, die einen am Leben halten, wenn man noch denken, wünschen und wollen kann, aber sonst nicht viel mehr.

Manchmal treffe ich Leute und die fragen mich, was ich im letzten Jahr so gemacht habe. Und ich denke an all die Stunden, die ich an seinem Bett saß und sitze, in sein blasses Gesicht schaue. Sehe, wie es immer dünner und er immer weniger wird. Höre, dass es nie besser wird, eher schlimmer, weiß, dass es schon lange keine Therapie mehr für ihn gibt. Für ihn, einen der besten Menschen auf der Welt. Weiß, dass ich ihn verlieren werde, obwohl er seit Jahren kaum mehr da ist. Und ich wundere mich, was die Leute so alles machen: Reisen, im Ausland arbeiten, sich neu erfinden, umziehen, sich ausprobieren. Ich weiß nicht, was ich dann sagen soll. Mein Bruder stirbt, ohne zu sterben, und ich sehe ihm dabei zu. Das habe ich gemacht in all den Jahren und mache es immer noch.

Man konnte mit ihm im Urlaub stranden, im Dunkeln die Unterkunft nicht finden und trotzdem Spaß haben. Als Kind hat er mir nachts Geschichten erzählt, wenn ich nicht schlafen konnte, und mir die Füße warm gemacht. Wir sind zusammen ausgezogen, um in einer WG zu wohnen. Wir sind ins Ausland gegangen und haben uns gegenseitig besucht. Wir haben unseren Abschluss gemacht und sind zusammen weggefahren und er war immer bei allem da. Und jetzt stirbt er und selbst in seinen schlimmsten Zeiten hat er nie, nie seinen Scheiß auf unseren Schultern abgeladen, hat seine beschissene Krankheit mit einer Größe getragen, wie ich es niemals könnte. Und die Welt weiß nicht, was sie verliert, aber ich weiß es, und seine Familie weiß es und seine Freunde wissen es, was verloren ist, wenn der Physiker nicht mehr da ist.