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Mit der Armbrust gegen meine Zombies  

Von Irina

Der letzte Herbst erscheint mir wie ein Film. Und ich sitze hier und versuche, ihn in meinen Kopf zu bekommen. Aber er passt nicht rein. Wochen und Monate gefüllt mit Stress, Traurigkeit,
Funktionieren, Arbeiten und Abstrusitäten.

Nun ist der Physiker zweieinhalb Monate tot und ich bin vor allem: orientierungslos. Ich kann nicht an ihn denken, wie er früher war, und was er noch alles war. Alles, was ich zulasse, ist er im Krankenbett. Der Physiker der letzten Jahre. Und dass er da jetzt nicht mehr liegt.  

Ich habe normale Tage. Gute Tage. Schlimme Tage. Tage wie im Film, an denen ich mich danach frage, was das bitte war. Ich träume von ihm. Wenn es mir schlecht geht, setze ich mich ins Auto,
fahre zum Pflegeheim und zurück und heule. Fahre auf den Friedhof. Stehe in der Kälte vor seinem Grab, versuche, den letzten Herbst, die letzten Jahre in meinen Kopf zu bekommen. Es klappt nicht. Fahre wieder nach Hause. 

Nach all den Jahren am Bett sitzen, Ausnahmezustand, Weinen, Abschiednehmen von jemandem, der noch da ist, aber trotzdem nicht, habe ich mich ein bisschen verloren. Durchhalten um jeden Preis, schauen, dass alle anderen auch durchhalten, Abkacken war keine Option. Und jetzt stelle ich fest, dass ich nicht mehr weiß, was mir wichtig ist, weil das von davor es nicht mehr ist.

Ich komme mir blind vor und taste mich voran. Tue das, was anfällt, Woche um Woche geht ins Land. Die Leute sagen, er ist doch noch nicht lange tot. Aber mir kommt es lange vor. Die Zeit dehnt sich aus. Und die einzigen Konstanten sind meine Orientierungslosigkeit und Staffel um Staffel von The Walking Dead. Ich kann mir nichts anderes anschauen als eine von Untoten bevölkerte Welt. Hässlichkeit, Dunkelheit, Desorientierung, Hoffnungslosigkeit, Hoffnung, Liebe, Freundschaft - mein Inneres in Reinform. Was macht man, wenn man den besten aller Brüder hatte, der jetzt tot ist?

Ich vermute, dass sich das irgendwann ändern wird. Und ich weiß, dass ich mich im Leben schon weit schlimmer gefühlt habe. Es ist nur so schwer, keinen Plan zu haben, wenn man sonst gerne einen hat. Und so laufe ich weiter, mit Carol, Daryl und seiner Armbrust durch den Wald, von Unterschlupf zu Unterschlupf, bis ich irgendwann eine neue Heimat finde oder mir der Rest der Welt auf den Kopf fällt.