Am Wochenende hatte mein sechsjähriger Sohn Fußballturnier. Das war aufregend für ihn, weil er schon eine Woche vorher nicht mehr schlafen konnte und sich Sorgen gemacht hat. Und für mich war es aufregend, weil sich mein kleiner Sohn eine Woche lang Sorgen gemacht hat, er könne es nicht schaffen, kein Tor schießen, nicht gewinnen, es nicht rechtzeitig auf die Toilette schaffen, weil er zu lange braucht um die (auf dem Klo verbotenen) Stollenschuhe auszukriegen. Dann kam der Tag des Turniers und wir sind mit einer wahren Armada von Jublern vorgerückt, inklusive selbstgemachten Fan-Shirts, Opa aus Deutschland und der Bereitschaft, auch dann noch zu jubeln, sollte sich der kleine Kerl weigern, den Rasen auch nur zu betreten. Was dann passiert ist, habe ich mich aber nicht ausmalen können. Mein Sohn, ewig von Selbstzweifeln und Versagensängsten geplagt, ist über den Rasen geflogen wie Ronaldo und Messi in Personalunion - allerdings mit einer mühsam selbst-gezimmerten Version des Gareth Bale-Samuraiknoten auf dem Kopf. Das Kind hat gespielt, dass es selbst seinem Vater die Tränen in die Augen getrieben hat und der war immerhin Mannschaftscoach und zu dem Zeitpunkt gerade damit beschäftigt der eigenen Verteidigung zu sagen, sie mögen doch bitte verteidigen und nicht ihre eigenen Mannschaftskollegen umtreten. Ich hätte diesem Kind eine Ewigkeit zuschauen können. Und dann haben sie gewonnen und Tore geschossen und nochmal gewonnen. Am nächsten Tag kam das Finale und mein kleiner Sohn saß schon eine halbe Stunde vorher voller Ehrfurcht am Spielfeldrand mit seinen abstehenden Ohren und knochigen Knien und hat aufs Spielfeld geschaut. Caspar David Friedrich könnte einem nicht effektiver eine wage Ehrfucht bei gleichzeitigem Herzschmerz beibringen. Das Finale kam und das Kerlchen ist gestürmt, als ginge es ums Leben.
Dann aber haben sie verloren, so wie man eben manchmal im Leben verliert, obwohl man alles gibt. Und hinterher stand er auf dem Platz und hat geweint. Ich hätte jetzt diese ganzen Elternsätze sagen können, die man eben mal so auf einmal kann, nur weil man Kinder gekriegt hat: Dass das dazu gehört. Dass er doch so toll gespielt hat. Dass das beim Sport eben so ist. Ich konnte aber nichts sagen, weil ich selbst einen Kloß im Hals hatte, der so groß war wie die Felsmassive auf eben jenen Caspar David Friedrich Bildern.
Als mein Sohn sich dann endlich entscheiden konnte, das Spielfeld zu verlassen, habe ich die Arme aufgemacht und für ein paar Minuten ihn und die ganze große Traurigkeit seines Herzens vom Platz getragen. Und ich habe an die durchgetragenen Nächte nach seiner Geburt gedacht, in denen ihm die Welt zu groß und zu überwaltigend war. An den Wegzug seines allerliebsten ersten Freundes ins Ausland, nachdem er wochenlang nicht richtig essen konnte vor lauter Kummer-Bauchweh. An die beweinten Geburtstagseinladungen, die er nicht bekommen hat. An all die Momente, auf die man kein Pflaster kleben kann und die dabei so furchtbar wehtun.
In diesem Aushalten liegt für mich die große, überwältigende Herausforderung als Mutter. Ich bin nicht die Hüterin meiner Kinder, nicht die, die alles wieder gutmacht. Ich kann keine Freunde ersetzen und die Einladung für ihn in mein Leben gilt jetzt und für alle Zeit. Ich hätte den gegnerischen Stürmer sehr gerne im Zürichsee versenkt, das Spielfeld abgebrannt oder zumindest den jubelnden Coach erschossen. Aber ich habe das nicht getan und stattdessen an meine eigenen ELtern gedacht. Daran, dass ich bis heute denke, es ist nicht das Ende der Welt, sollte meine Wohnung abbrennen, mich mein Mann verlassen, ich ein Bein verlieren - oder alles gleichzeitig. Ich würde keine Sachen packen, sondern mich einfach in den Flieger/Zug/auf den Esel setzen und nach hause reiten. Denn zwischen dem Ende der Welt und mir stehen ja meine Eltern, die mein Bein nicht würden nachwachsen lassen können - die aber meine Welt davon abhalten würden, auseinanderzufallen.
So habe ich meinen zusammengefalteten Sohn einfach auf meinem Arm gelassen. Und daran gedacht, dass man seine Kinder nicht beschützen kann. Vor nichts. Dass man die großen Schmerzen nicht wegreden kann oder sollte. Aber man kann sie miteinander aushalten.
Und ich verspreche Dir hier und jetzt, mein Kleiner, sollte jemals das Ende Deiner Welt kommen - ich bin bereit.