Ich sehe dich, denke ich, als der Kookaburra auf dem Frangipani-Baum vor meinem Küchenfenster sitzt. Schau Baby, sage ich zu dem kleinen Speckmops auf meinem Arm. Das Baby schaut und der Kookaburra schaut zurück. Dann arbeiten wir beide wieder vor uns hin: ich versuche, getrocknete Banane aus dem Hochstuhl zu spachteln und das Baby ordnet meine Küchenschublade neu. Auf einmal hören wir lautes Quieken aus dem Garten. Mein erster Gedanke ist, dass einer der Fluganfänger aus dem Nest gefallen sein muss. Ich schnappe mir Gummihandschuhe, ein Küchenhandtuch, eine Plastikschüssel und mache mich zur Rettung bereits. Aber als ich den Garten rund um den Brut-Baum absuche ist da nichts. Das Gequieke wird lauter und lauter. Und dann sehe ich den seelenvollen Kookaburra im Baum sitzen. Im Schnabel eine Maus, die aus Leibeskräften quiekt und zappelt. Ich fühle mich wie eingefroren. Und dann mache ich etwas unfassbar feiges, denn ich gehe ins Haus zurück und mache die Terrassentür zu. Und als das Gequieke einfach nicht verstummen will, setze ich Kopfhörer auf und schlucke den Kloß im Hals weg. Das Baby lutscht in dieser Zeit fröhlich jeden einzelnen Löffel aus der Schublade ab und grunzt begeistert. Verdammt nochmal, denke ich, kann denn nicht einfach auch mal was so sein, wie es sich in meinem Kopf richtig anfühlt? Disney-Idylle und so. Aber was genau war da passiert? Ich weiß ja, dass Kookaburras zur Gattung der Eisvögel gehören und somit Fleischfresser sind: Jäger also. Warum konnte ich da nicht hinschauen und was habe ich vorher gesehen.
Der Vorfall bringt mich also auf die Idee, mir doch mal die innere Brille zu putzen. Und zu überlegen, wo ich was sehe und wo ich sehe, was ich sehen will.
Als ich ein paar Tage später am Fußballfeld stehe, ergibt sich die erste Gelegenheit. Dark Vader geht nämlich beim anstehenden Fußballmatch freiwillig ins Tor. Das ist eine Premiere in unserer Familie, in der sonst alle schreiend weglaufen, wenn ein Torwarthandschuh auf sie gerichtet wird. Schau mal, sage ich zu Beanie, der wie immer bei den Spielen seiner Schwester den Fachmann-Gesichtsausdruck zur Schau stellt, Dark Vader ist aber mutig. Hmhm, sagt Beanie, gesprächig wie üblich. Dark Vader hat in der ersten Halbzeit wenig zu tun, bereitet sich aber mental scheinbar auf den Ernstfall zu - denn sie wirft sich willkürlich in alle Torecken und das auch ohne drohenden Ballkontakt. Jetzt schau dir das mal an, sage ich zu Beanie, Dark Vader ist aber sehr motiviert. Hmhm, sagt Beanie. Jetzt dirigiert Dark Vader in bester Olli Kahn Manier ihre Mannschaft aus dem Kasten raus. Mann, sage ich, Dark Vader ist aber toll. Mann, Mama, sagt Beanie , echt - das macht die doch nur, weil die Taschenseife in der anderen Mannschaft ist. Die Taschenseife, das muss man wissen, ist ein Junge aus Dark Vaders Parallelklasse und zu seinem Namen gekommen, weil ihm irgendein gutmeinender Mensch immer wieder neue Flaschen mit Handdesinfektionsmittel an den Rucksack hängt. Öh, sage ich, aber .. Dark Vader ist doch mutig, wenn sie freiwillig ins Tor geht. Beanie schnaubt. Dark Vader sei als Stürmer wesentlich besser, denn sie sei Linksfüssler und die Schnellste ihres Teams, erklärt mir mein Sohn knapp, Dark Vader pulverisiert die alle im Sprint. Im Tor hingegen sei sie eine Vollkatastrophe. Bitte, motze ich meinen Sohn an, Mädchen können auch super im Tor sein, ja?! Bild dir da bloß mal keine Schwachheiten ein. Beanie seufzt. Gemeinsam beobachten wir, wie Dark Vader, die sich minutenlang wie verrückt in alle Torecken geschmissen hat, von einem vorbeilaufenden Hund mit Schlappohren abgelenkt wird, dem sie begeistert zuwinkt. Dabei aber verpasst, wie die gegnerische Mannschaft einen Ball Richtung Tor trudeln lässt. Mit der Geschwindigkeit eines neugeborenen Schafs holpert er direkt neben der begeistert winkenden Dark Vader ins Netz.
Am nächsten Morgen nehme ich mein Spiegelbild schonungslos ins Visier. Ab heute wird hingeschaut, befehle ich mir selbst. Das wäre doch gelacht! Nach Lachen ist mir aber spätestens beim Frühstück nicht mehr, denn Elly mischt das Geschehen auf. Noch während die Müsli-Schüsseln nicht leergegessen werden, erreicht die Stimmung einen ähnlichen Siedepunkt wie bei meinem ersten Ärzte-Konzert, wo der Höhepunkt des Konzerts darin bestand, dass das Publikum Randbestuhlung aus der Verankerung riss und mitten in die tanzende Menge geschmissen hat. Meine Tonlage hingegen erinnert weniger an Farin Urlaub, dafür aber sehr an den Sänger der Suicidal Tendencies und ähnlich gelagert ist auch meine Stimmung. Elly hat zehn Arme und piekt mit einem Mimimi, die sofort auf Krawall umschaltet, mit dem anderen klaut er Dark Vader ein Schokostück, haut Beanie gegen das Knie, hebt den Babylöffel vom Boden auf und steckt ihn sich in den Mund.
Verdammt nochmal, schmeisse ich mich stagediverisch ins Getümmel und lasse meine Wut über den beschissenen Tagesbeginn mit der Kraft einer Dampfwalze über das Kind rollen. Elly, es ist immer derselbe Mist, jeden Morgen, immer du, das geht nicht, das darf nicht, spinnst du und was fällt dir ein. Geh auf dein Zimmer, einfach weg, zur Hölle und vom Tisch - am besten alles gleichzeitig. Elly steckt sich eine Strähne seiner wilden Haare in den Mund. Seine Meer-Augen treffen meine, aber da ist kein Zorn oder Trotz. Schau mich an, sagen sie mir. Ich bin hier, sagen sie. Du sollst mich sehen, sagen sie. Und ich, die ich ja immer so super hinschauen wollte, wische mir die Tomaten aus den Augen. Ich nehme meinen kleinen Sohn in den Arm und fühle sein Herz gegen meine Brust schlagen. Tut mir leid, sage ich. Dabei habe ich doch sonst immer recht. Immer! Hier allerdings nicht. Mir auch, sagt Elly und riecht dabei wie ein warmes Brötchen, frische Erde und die Dämmerstunde am Strand der Northern Beaches. Er riecht wie ein schöner Elly und ein schöner Elly ist das Schönste, das ich kenne. Und zwar genau so, wie er da vor mir steht.
Beanie soll in die Hochbegabtenförderung. Das finden seine Lehrer und wir als Eltern auch, denn wir sehen, dass sich das Kind langweilt. Wir sehen auch Beanies Potential. Zusätzlich sehen wir die Chance für das Kind. Und wir sehen, dass er in dem Umfeld und überhaupt. Man wundert sich, dass bei unseren seherischen Fähigkeiten noch keine Zweitkarriere als Money Makers bei irgendeiner Börse rausgesprungen ist. Also lernt Beanie und bereitet sich auf den Aufnahmetest vor. Am Anfang wehrt er sich und droht mit Festkettung an den Torpfosten seines Fußballstors im Garten. Aber irgendwann gibt er auf. Denn wir sehen ja, dass es das Beste für unser Kind ist. Nach der Prüfung warten wir auf ihn bei der Schule. Als Beanie rauskommt, weint er still. Mit uns reden möchte er nicht. Zu hause angekommen, verschwindet er in seinem Zimmer. Ich bin nicht da, sagt er durch die verschlossene Tür, als ich zaghaft anklopfe. Also gehe ich wieder. Abends stecke ich den Kopf in sein Zimmer, denn mir wird die ungeheure Ehre zuteil, dass ich abends auf Beanies Bettkante die Bruchstücke seines Tages einfangen und zusammensetzen darf. Damit für die Nacht kein Faden lose bleibt und er sich an keiner Kante verletzt. Was auch immer passiert, Schatz, sage ich meinem Kind und mein Herz tut so weh, dass ich eigentlich Mimimi gerne bitten möchte, mir ein Peppa Pig Plaster draufzukleben. Was auch immer passiert, sage ich ihm in die Stille der heraufziehenden Nacht, für uns bist du der Größte, der Beste, der Schönste, der mit den tollsten Ohren, den längsten Haaren, du bist das Licht meiner Tage und der Sternglanz meiner Nacht. Ich wollte euch nicht enttäuschen, weint mein Kind, weil ihr doch seht, dass ich das machen soll. Würg, denke ich, das haben wir ja ganz toll gemacht. Weißt du, was ich sehe, sage ich ihm. Ich sehe einen wunderbaren Beanie, unfassbar talentiert, genau richtig schön, schnell, schlau und mit Augen, von denen man selbst gesehen werden möchte. Und mehr musste zwischen ihm und mir nicht gesagt werden. Ich habe dann danach auch selber schnell die Augen zugemacht, damit die Seherei zumindest für diesen Tag beendet wurde.
Das läuft nicht gut, soviel ist sicher. Dabei arbeite ich an der Uni doch ständig an meiner Selbstreflektion - eigentlich sollte ich auf einer Wolke der Selbsterkenntnis zum Wocheneinkauf schweben können, anstatt das Auto zu nutzen. Die Umwelt würde es mir danken. Wenn wir schon über Autos sprechen, sage ich zum Iren, ich finde, wir sollten mein Auto nicht verkaufen. Mein unfassbar großartiges Auto steht ungefahren seit unserem Umzug in der Schweiz. Ich liebe mein Auto, denn es ist schnell und schön und kein Bus. Ich bin ja keine Bus-Fahrerin und praktisch und vernünftig, sondern eigentlich bin ich Piratenkapitän und wild und frei. Wild und frei blockiere ich also alle Verkaufsbetrebungen und verwirre alle Beteiligten dadurch, dass ich immer gerne Pläne dazwischenschieße, wie mein Auto doch noch zu halten sei. Mein Freund in der Schweiz, der sich in einem Anfall geistiger Umnachtung dazu bereit erklärt hat, den Verkauf für mich abzuwickeln, rauft sich regelmäßig die Haare. Denn mittlerweile hat mein Auto seinen fünften Stellplatz, musste zum TÜV und wird trotz meiner Sabotageaktionen regelmäßig potentiellen Käufern vorgeführt, was umfassende Säuberungsmaßnahmen mit sich bringt. Ach, sage ich mal wieder, ich sehe das schon vor mir, wie ich mit dem Auto fahren, wenn ich wieder nach hause komme. Auf einmal fällt mir der Kookaburra ein. Das Gequiek der Maus, die Kopfhörer auf meinen Ohren. Ich werde nicht mehr in dem Auto fahren, denn wir passen da gar nicht mehr alle rein und haben schon damals in der Schweiz nur mit größter Jenga-Stapelei reingepasst. Ich werde auch deswegen nicht mehr mit dem Auto fahren, weil wir jetzt hier sind. Hier und nicht in Deutschland oder der Schweiz. Und wenn wir zurückkommen, dann werde ich sehen, was ich mache. Aber jetzt bin ich hier. Und nicht da. Mach die Augen zu, sage ich mir, mach sie zu, lass die Seherei und mach zur Abwechslung mal was Sinnvolles. Wen kümmert der Scheiß von gestern, wenn ich es heute richtig machen kann. Also unterschreibe ich den Verkaufsvertrag. Gehe dann hoch und heule. Weil ich nicht daheim bin, nicht weiß, was ich wieder zurückkann. Weil ich das selber entschieden habe. Weil mein Auto weg ist. Und weil man nicht alles haben kann. Abends schickt mir mein Freund ein Bild meines Autos vor der Übergabe. Es ist so sauber und glänzt. Farewell, sage ich, allzeit freie Bahn. Er habe, so erklärt mein Freund, es innen saubergemacht so gut er es könnte. Wenn ich allerdings meinen Kindern nochmal den Verzehr von Reiswaffeln in einem Auto erlauben würde, möchte er es dann lieber hinterher doch nicht saubermachen. Den Reiswaffelsand habe er aber irgendwann dann weggekriegt. Den Glitzer zwischen den Sitzen allerdings habe er dringelassen.