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Die Welt als Bentobox.

von Edda

"I love you" sagt die Frauenstimme, die Telefonverbindung rauscht. Man sieht ein Flugzeug fliegen und der Himmel ist blau. Dann den Einschlag in die Zwillingstürme. Dark Vader weint und Elly ist blass. Beanie hält sich ein Kissen wie ein Schild vor die Brust gedrückt. Vor einer halben Stunde haben sie mich gefragt, was denn 9/11 bedeutet und warum das immer wieder irgendwo auftaucht. Zuerst haben der Ire und ich erklärt, dann schauen wir gemeinsam den Zusammenschnitt der Ereignisse der Air Traffic Controllers. Jetzt wissen sie es also und dann doch auch wieder nicht.

 

Ein paar Wochen später kommen wir an einer Demonstration zu Black Lives Matter in Sydney vorbei. I can't breathe, liest Dark Vader. Wieso denn, fragt Elly, bist du erkältet? Blak Lives Matter, liest Beanie und fragt, ob das ein Schreibfehler ist. Nein, sage ich, Blak Lives Matter ist die Initiative der First Nation People in Australien und sei ein Ableger, deswegen aber noch lange nicht sekundär. Alle Leben sind wichtig, erklärt Elly. Und genau darum geht es hier überhaupt nicht, sage ich ihm. Das verstehe ich nicht, sagt mein kleiner Sohn. Da geht es dir wie Millionen von Menschen, sage ich ihm, nehme seine Hand und versuche zu erklären.

 

Was ist Abortion, fragt mich Dark Vader bei einem anderen Spaziergang durch die Stadt und zeigt auf eine Gruppe von jungen Leuten, die mit Schildern vor dem Rathaus stehen. Auf den Bildern sieht man fötale Ultraschallaufnahmen. Abtreibung, übersetze ich den Begriff, ist, wenn sich Eltern oder Mütter entscheiden, ein Baby nicht zu bekommen. Fies, findet Dark Vader. Das finden die Demonstranten offensichtlich auch, die auf einem mit irgendeiner roten Soße beschmierten Schild darauf hinweisen, dass Abtreibung in Australien erst seit 2019 nicht mehr öffentlich illegal ist. Weißt du, sage ich und denke gleichzeitig, dass man sich diese bescheuerte Elternrhetorik auch echt in die Haare schmieren kann, denn offensichtlich weiß Dark Vader nicht, weil sie mich ja sonst nicht gefragt hätte. Dann spare ich mir den ganzen "Weißt du"-Kram und versuche zu erklären.

 

Als Eltern steht man vor der fast unlösbaren Aufgabe, irgendwas mit der Welt und den eigenen Kindern veranstalten zu müssen. Denn die Welt ist da, soviel steht fest - und die eigenen Kinder auch. Und die Welt gibt es nunmal nicht in der Version ohne Altersfreigabe, wo in sauberen Vorstädten niedliche Einhörner einem Mehrkorn-Sandwiches ohne Brotkruste in die Bento-Lunchbox tragen und unter Kumbaya-Gejodel neben in Sternform ausgestochene Möhrenscheiben legen. Ich muss mich als Mutter also nun entscheiden, ob ich die Welt als Scheibe lassen möchte und darauf hoffe, dass sich die Ränder runden, wenn die Kinder dazu bereit sind. Oder ich mache mich auf die Reise, Dinge zu erklären, die schwer zu erklären sind. Die oft auch deswegen schwer zu erklären sind, weil sie von mir als Mensch eine Stellungnahme verlangen. Und nicht nur als Mutter. Alle Gummibärchen grabschen - schlecht, das Baby mit dem Stock pieken und lachend weglaufen - ganz schlecht, Hausaufgaben ohne Marathon-Beschwerdetirade machen - toll. Wie ist das aber mit Rassismus, mit Moral, mit der Angst vor dem Verlust von Privilegien, von denen man meint, sie stehen einem zu.

 

Alle Leute, die Donald Trump mögen, sind ganz verdammte Arschpupser, erklärt Elly stolz, und saublöd noch dazu. Ist das so, frage ich ihn. Klar, erklärt er mir mit geschwellter Hühnerbrust, weiß doch jeder! Was wäre denn aber, Kleiner, wenn ich dir jetzt sage, dass selbst das nicht einfach ist. Dass das, was man gut findet, oft vor allem mit einem selbst zu tun hat - und weniger mit dem, was sich einem da so von außen präsentiert. Quatsch, Mama, schmeißt sich Elly in die magere Hühnerbrust und fuchtelt mit seinen großen Händen, man denkt doch mit dem Kopf. Er wühlt in seinen vielen Haaren, bis er seinen Kopf gefunden zu haben scheint. Ich weiß nicht, sage ich.

 

Als Beanie sieben Jahre alt war, hat er sich in ein Buch über das Periodensystem verliebt. Als Lauge wird eine alkalische Lösung bezeichnet, deren PH-Wert über 7 liegt, habe ich ihm vorgelesen und der kleine Beanie mit dem einen abstehenden Ohr hat andächtig zugehört. Spätestens da habe ich mich entschieden, den Schritt mit der Scheibe zu überspringen und die Welt so zu lassen, wie sie nunmal ist. Und darauf zu vertrauen, dass Kinder Großmeister des Inselwissens sind. Also lese ich aus dem Periodensystem vor, trage Artikel über Mikrobiologie vor und als Interesse am Tagebuch der Anne Frank laut wird, lesen wir auch das. Und zwar als Graphic Novel, damit auch Mimimi mitschauen kann. Was ist denn das für ein Rauch über dem Zug, fragt Dark Vader und zeigt auf den schwarzen Tunnel, in den der Zug einzufahren droht. Ich schlucke und entscheide mich: Da werden Menschen verbrannt, Schatz, in den Lagern hat man Menschen in großen Öfen verbrannt. Ach so, sagt Dark Vader. Und geht in den Garten spielen. Denn auch das gehört dazu - aushalten, wenn jemand erstmal keine Fragen mehr hat und gerade nichts mehr hören will.

 

"For evil to succeed, all that is necessary is for good men to do nothing." sagt Stephen Colbert, der in den Tagen der amerikanischen Präsidentschaftswahl in unserem Haushalt zum Stadionsprecher geworden ist. Ich maße mir nicht an, meine Kinder zu guten Menschen erziehen zu wollen. Denn sie sind, was sie sind - und was weiß ich schon. Aber ich will ihnen von dieser Welt mitgeben, woran wir vorbeikommen und am liebsten noch mehr als das. Also rede ich von kugelförmigen Scheiben, vom Rauch, von Türmen, davon, dass sich Menschen manchmal hinter verschiebbaren Schränken verstecken müssen, dass nicht klar ist, wann Menschen anfangen zu sein - und davon, dass Möhren nicht in Sternenform wachsen, ich aber gerne bereit bin, ihnen welche vom Himmel zu holen. Sterne wohlgemerkt, nicht Möhren.