Meine Kinder lieben Weihnachten, ich nicht. Mir geht die Fresserei und die Geschenkerei und die Feiertagsfeierei auf den Zeiger. In den beinahe zehn Jahren meiner Elternschaft haben wir aber mittlerweile durchaus gute Weihnachtskompromisse eingeführt: ich gehe willig zu jeder Veranstaltung im Dezember, die ansteht und wo ich gewünscht bin und das sind durchaus nicht wenige, backe Plätzchen und verzichte dabei auf Experimente, die geliebte Plätzchenrituale empfindlich stören könnten und verdrehe nicht die Augen, wenn der Nachwuchs ab dem 1. Dezember konsequent Weihnachtsmusik fordert und das bei jeder Gelegenheit. Dafür will ich keinen Baum, wehre Geschenkfluten seitens motivierter Großeltern ab und verkneife mir die permanenten Kommentare, nach denen man doch auch mal wieder über Weihnachten wegfahren könnte. Jetzt aber sind wir umgezogen und als sich im Supermarkt unübersehbar die Schoko-Türme stapeln, fragt mich Dark Vader entsetzt, wieso man hier denn schon Monate vor Weihnachten die Schokomänner kaufen kann. In einem Monat ist doch Weihnachten, Schatz, und die sind viel später hier als in Europa mit dem Kram. Und ich kann mir nicht verkneifen, ihr zu erklären, dass das damit zu tun haben könnte, dass irgendwer wahrscheinlich die Kartons mit den Weihnachts-goodies im Lagerraum nicht habe finden können, dies seinem Chef mitgeteilt habe, der deswegen aber erstmal 10 Formulare ausfüllen musste, die wiederum nicht auffindbar waren und dann die Zentrale nicht erreichen konnte, weil bei denen das Internet nicht funktioniert hat. Und wer das jetzt nicht versteht, der war noch nie in Australien. Unser erstes Weihnachten in Australien steht also an und als wir uns gerade aus der Schockstarre befreien, reist der Ire nach Europa ab. Für drei Wochen. Eigentlich war geplant, dass wir alle gemeinsam fahren, aber wie das manchmal so ist, klappt es leider nicht. Also bringen wir ihn zum Flughafen-Shuttle und sitzen danach mehrere Minuten schweigend an der Bushaltestelle.
Jetzt sind wir ja an Weihnachten ganz alleine, schnieft Elly. Nee, dann ist der Ire doch wieder da, versuche ich die bewegten Gemüter zu beruhigen. Aber an Weihnachten ist Weihnachten schon vorbei - das Beste ist doch das vorher, erklärt das Kind und hat wahrscheinlich recht. Also gebe ich Alles, hänge einen Adventskalender auf, zerre die verbleibende Weihnachtsdeko aus dem Keller, die den Zoll überlebt hat und mache mich an die Arbeit. Aber meine Kinder bleiben bedrückt. Kann ich jetzt mal richtig Weihnachten haben, blafft Elly, als ihn Mimimi nur mit Windel bekleidet mit der Gießkanne im Garten abduscht. Das Wetter ist ganz falsch, Mama, mach was. Beanie erklärt, dass er Bauchweh habe, müde sei und ins Bett gehe. Es ist 16:30. Als ich später nach ihm schauen möchte, höre ich leises Schluchzen unter seiner Bettdecke. Auch Dark Vader kämpft mit Heimweh. Wir bekommen Bilder vom Nachbarsmädchen, das mit seiner Familie beim Kerzenziehen in unserem ehemaligen Wohnort war. Wir sehen Gesichter, die uns im Alltag schrecklich fehlen, weil sie uns fast jeden Tag begleitet haben und die uns durch das Handydisplay fast bis auf den Grund unserer Seelen schauen können. An dem Tag liegen wir alle um 18 Uhr im Bett und jeder schaut in den hell erleuchteten Sommerhimmel, hört den wilden Papageien zu und denkt, dass hier irgendwas falsch ist. Es schluchzt nicht nur unter einer Bettdecke. Also setze ich mich an den Computer und schreibe in allen meinen Hilfsforen auf Facebook, frage ausländische Familien, wie und wo sie hier ihren Weihnachtsfrieden frieden und bekomme ein Spektrum an Antworten: "gar nicht" ist genauso häufig wie "drauf einlassen und an den Strand zum Christmas-BBQ gehen". Einmal schreibt eine Unbekannte: "Nazi bitch, go home and stop crying" und während der Beitrag schnell gelöscht wird, bin ich erleichtert, dass Weihnachten wenigstens auch hier nicht Arschgeigen-resistent ist.
Während der Ire in Galway Familie besucht und dann in die Schweiz reist, geht bei uns die Welt unter. Samstag abends hat unser Nachbar zur feierlichen Erleuchtung der Weihnachtsdeko geladen und wer jetzt an sorgsam geschmückte Häuser denkt, der war ebenfalls noch nie in Australien, denn Deko bedeutet hier, dass aufgefahren wird, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Beanie will nicht mit. Er sei müde, zieht seinen Schlafanzug an und verschwindet. Wir sind gegenüber, rufe ich den knochigen Knien nach, die um die Ecke schleichen. Wir gehen los und müssen lachen, als der Nachbar stolz wenig später den Hebel umlegt und daraufhin erstmal nicht nur seine Sicherungen rausfliegen, sondern auch in den umliegenden Häusern prompt die Lichter ausgehen. Die Kinder spielen im Rasensprenger und fahren auf Vehikeln die Straße hoch und runter, ich schaue zu unserem Haus rüber und denke an den einsamen Beanie mit den abstehenden Ohren. An Weihnachten ist das Heimweh immer besonders schlimm. Als wir eine Stunde später rübergehen, sitzt Beanie tränenüberströmt auf der Couch. Er sei so alleine, hätte aber auch nicht rüberkommen wollen, er wisse auch nicht, was ihm helfen würde und er würde jetzt zur Oma ziehen. Wieso wir überhaupt hätten umziehen müssen, wäre doch alles ganz ok gewesen. Wir wären schuld. Blöde Eltern! Ich koche Kakao, wickele meine Kinder in Wolldecken (schalte allerdings vorher noch schnell die Klimaanlage an) und lese von Pippi & dem Weihnachtsbaum vor, vom Grinch und von da, wo der Weihnachtsmann wohnt. Ich lese vor, bis alles schläft und erschlage hinterher noch eine Kakerlake, die wahrscheinlich auch nur zuhören wollte. In dieser Nacht finde ich keine Ruhe. Am nächsten Morgen stehe ich früh auf und mache Lebkuchenteig. Als die Kinder mit blassen, spitzen Gesichtern in die Küche tappen, sage ich, dass ich jetzt mal Weihnachtsmusik anmachen würde und dann würden wir besprechen, wie wir den Tag doch noch retten können. Hunger hat keiner. Was hilft, frage ich? Was hilft euch, ich mache es. Im Hintergrund singt Shane McGowan von den Pogues das einzige Weihnachtslied, dass ich einigermaßen aushalten kann und während wir hören, dass die boys of the NYPD choir still singing "Galway Bay", kommen auch endlich meine Tränen. Ich denke an meine Mama und Papa, meine beste Freundin, mein Zuhause, das so weit weg ist, mein Lieblingscafé, das Grab meiner Töchter. Auto fahren, piept Dark Vader. Ich will, dass wir alle zusammen irgendwohin fahren. Wohin, frage ich. Egal, sagt das Mädchen mit den türkisen Augen. Also packe ich vier Kinder in Schlafanzügen ins Auto. Es ist 6:30 an einem Sonntag morgen. Die Straßen sind leer und als wir um die Kurve biegen, liegt unter uns das Meer. Am Meer entlang, kommandiert Dark Vader, und Musik! Weihnachtsmusik?, frage ich ergeben, denn was tut man nicht alles. Nee, David Bowie, ruft sie wildentschlossen und endlich, endlich höre ich in ihrer Stimme, wie sie das Laserschwert zieht. Wer Dark Vader nicht kennt, stellt sie sich am Besten vor, wie eine Feuerwerksbatterie: Einmal gezündet, explodiert der Himmel und man muss nur aufpassen, dass einem die Querschläger nicht den Kittel abfackeln. Über dem Meer scheint die Sonne und der Himmel ist weit, neben uns her fliegt Starman und he'd like to come and meet us but he thinks he'd blow our minds. Vier Stimmen singen mit, David Bowie beleuchtet unseren Weg. Fenster runter, brüllt Dark Vader, Fenster runter und jetzt: "Kick Drum Heart". Die Fenster werden aufgeschoben, das Lied geht los. An den Northern Beaches fährt ein theoretisch weißer VW-Bus am Meer entlang, hinten sitzen vier langhaarige Kinder in Schlafanzügen. Am Steuer sitzt die Mama und hört ihren Kindern beim Leben zu. In diesem Jahr wird sie 40, hat in zehn Jahren sechs Kinder zur Welt gebracht und einmal um den Globus umgezogen, hat gearbeitet, studiert, manchmal fühlt sie sich wie 100 und manchmal wie 10. Hinten halten die Kinder ihre Hände aus dem Fenster, singen mit und geben dem Wind High Five. Vorne findet die Mama lange nicht immer ihren Frieden, aber jetzt gerade in diesem Moment, jetzt hat sie ihn.