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To the moon and back

von Edda

Bei uns wird mit harten Bandagen gekämpft und in harter Währung bezahlt und weil das so ist, hat Beanie in seinem Stempelheft sagenhafte 68 Stempel für Sklavendienste gesammelt: Laub rechen, Unkraut jäten, Hof kehren, you name it. Am Kühlschrank hängt die Belohnungsliste, was man für wieviel Stempel bekommen kann und während Dark Vader aufgegeben und Elly schon bei 15 Stempeln für ein Buch seiner Wahl beschissen hat (Wenn Du das jemals liest, Kleiner, ich weiß ganz genau, dass Du den Rechen da selber reingemalt hast. Meine Rechen sehen nämlich nicht aus wie aufgespießte Igel.), macht Beanie weiter mit dem ihm eigenen Fleiß. Und gewinnt somit eines Tages den derzeitigen Hauptpreis: einen Ausflug nach Sydney allein mit Mama (und Baby, dem alten Milchling). Na, Schatz, wann gehen wir denn, frage ich meinen großen Streber. Der versucht an seinen triefäugig dreinschauenden Geschwistern vorbeizuschauen, die komischerweise immer dann aktiv werden, wenn jemand anders die Belohnung einsammeln will, für die sie sich noch nicht interessiert haben, als es um die Erfüllung der Aufgabe ging. Gehen die anderen dann nicht mit, will Beanie wissen. Nee, sage ich, die können gerne dann noch ein bißchen Unkraut jäten. Schade, findet Beanie. Ja, Mama, so schade, seufzt Dark Vader. Schrecklich schade, findet auch Elly und schafft es, niedergeschlagen unter seinem immensen Haarwuschel dreinzuschauen. Du willst die doch nicht etwas mitnehmen, frage ich Beanie. Rucksack gepackt, röhrt es da aus dem Flur und Mimimi stampft herein, und hat sich schonmal die Mütze aufgesetzt. Was?, sage ich, aber nicht alle! Du bist fies, Mama, brüllt Mimimi. Und mean! Du bist selber fies, streite ich mich mit meiner zweijährigen Tochter, das ist Beanies Belohnung. Ich bin nicht fies, kreischt das kleine dicke Mädchen und baut sich auf ihren Speckbeinen vor mir auf: Ich bin nice! Meiner gequälten Mutterseele entsteigt ein sehr tiefer Seufzer, denn ich kann ahnen, was jetzt kommt. Lass uns doch alle zusammen gehen, findet Beanie. Und so machen wir es dann auch.

Ich fahre morgen mit den Kindern nach Sydney, erkläre ich dem Iren. Morgen ist doch aber Mittwoch und bekanntlich Schule, erklärt der. Weiß ich, sage ich, aber es wäre doch keine Belohnung, wenn man für Spaß einen Wochenendtag opfern muss, an dem man ohnehin Spaß hat. Du erklärst diese Logik der Schule, erwidert der Ire. Ach, sage ich, da lüge ich ein bißchen rum. Und wie kommt ihr in die Stadt rein, will der Ire wissen. Mit dem Bus, triumphiere ich, denn ich habe mir schon alles genau überlegt. Nicht schlau, sagt der Ire. Ihr müsst Masken tragen und jeder Bus darf nur XY Passagiere mitnehmen, da steht ihr bei der Rückfahrt ewig rum. Öh, sage ich weniger siegesgewiss. Fahrt doch mit dem Auto, der Ire ist in Gedanken schon wieder bei seiner Arbeit. Nee, sage ich entschieden. Ich fahre nicht mit 5 mehr oder weniger kleinen Kindern in die Innenstadt von Sydney, suche einen Parkplatz und muss dann anschließend noch einen ganzen Tag Spaß überleben. Ich buche dir einen Parkplatz, total easy, der Ire ist überzeugt. Also packe ich am nächsten Morgen den Kinderwagen, Proviant, Trinkflaschen, Wickeltasche und so. Seid ihr zum 18. Geburtstag des Babies wieder da, will der Ire wissen. Sei ruhig, empfehle ich, sonst täusche ich Corona vor, begebe mich in 2 Wochen Quarantäne und du darfst gerne für mich übernehmen. Der Ire winkt uns nach, als wir aus der Einfahrt rollen und sieht so aus, wie ich mir Menschen vorstellen, die einem Himmelfahrtskommando nachschauen. Auf der Fahrt nach Sydney hören wir TKKG (erinnert sich noch jemand?), die Sonne scheint und ich denke, dass das vielleicht doch nicht mein Ende wird. Sondern, dass ich als strahlender Held aus diesem Tag hervorgehen werde: Die Frau, die mit fünf kleineren Kindern den Tag allein in Sydney verbrachte und zurückkehrte. Oder so.

Mein Hochgefühl verebbt, als mich mein Navi in die Straße einbiegen lässt, in der das Parkhaus sein soll. You have reached your destination, erklärt mir die freundliche Frauenstimme. Nur, da ist kein Parkhaus. Äh, sage ich, und rufe in aller Seelenruhe den Iren an. DA IST KEIN SCHEIßPARKHAUS, MANN! brülle ich entspannt in die Freisprechanlage. WESSEN KACKIDEE WAR DAS DENN und ICH FAHRE GLEICH WIEDER HEIM. Man muss nicht immer gleich schreien, Mama, erklärt mir Elly, während hinter mir die Autos hupen, weil ich ratlos mit meinem Bus die Straße blockiere und man nicht rechts ranfahren kann. Er wisse nicht, wo ich sei, sagt der Ire freundlich, schaue aber gerne, was er rausfinden kann. Was danach folgt, qualifiziert den Iren jederzeit für das Call Center der Deutschen Bahn, denn er lotst mich im Blindflug in aller Ruhe durch den Morgenverkehr Sydneys und schlußendlich ins Parkhaus. Als sich die Parkhausschranke vor uns hebt, klatschen meine Kinder freundlich und das Baby gluckst. Wie nett, denke ich und nehme mir vor, bei meiner nächsten Flugzeuglandung auch wieder zu klatschen. Höchstanstrengungen müssen belohnt werden, selbst dann, wenn sie zum Job gehören und man dafür bezahlt wird. Äh, moment mal .. Die Kinder steigen aus und ich verteile den Proviant auf viele kleine Rucksäcke. Beanie ist der Bestimmer, entscheide ich, und sagt wohin wir gehen. Darling Harbour, sagt das Kind ohne nachzudenken. Also schieben wir los.

Sydney sieht anders aus in COVID-Zeiten: leerer, maskierter, insgesamt ruhiger. Wir laufen die George Street runter, am Queen Victoria building mit seinen schicken Schaufenstern entlang. Man merkt sofort, dass keine Touristen da sind, denn keiner macht Selfies vor Häuserschluchten oder steht in Menschentrauben vor den glitzrigen Auslagen der Läden. Darling Harbour ist der Rummelplatz unter den Häfen von Sydney und normalerweise knallvoll. Heute sind wir auf dem riesigen Spielplatz am Wasser fast die Einzigen. Aber da ich ja praktisch mit einer kompletten KiTa-Gruppe anrolle, fällt keinem auf, wie leer es bis gerade noch war. Meine Kinder rutschen und klettern und mit jeder Minute sieht man ihnen an, dass sie sich freischwimmen von den letzten Wochen und Monaten voller Regelverschärfungen, abgesagter Kindergeburtstage und nicht stattfindender Spaßveranstaltungen. Sie rutschen die große Rutsche zu Viert und heben die Arme wie auf einer Achterbahn, immer und immer wieder. Dann rutscht Beanie mit dem Baby auf dem Arm und der Zwerg lacht und knickert und fuchtelt, so wie es nur Babies können, die dem ganz großen Glück nahe sind. Jetzt zum Wasser, ruft Dark Vader, denn bei Darling Harbour gibt es große Wasserflächen, mit Steinen, über die man laufen kann, Fontänen und Springbrunnen. Passt auf, sage ich, als Dark Vader auch schon mit beiden Füssen neben den Laufstein ins Wasser tritt. Äh, mehr fällt mir auch jetzt nicht ein, aber dann setzt sich Mimimi vollbekleidet und laut juchzend mitten in den Brunnen. Wahrscheinlich hatte sie kurzzeitig vergessen, dass es Winter ist und wir noch einen ganz Tag durch die Stadt laufen wollen. Oder aber sie dachte, dass das Wasser schon Platz machen würde. Ich hole Moses aus dem Wasser, ziehe die nasse Hose aus und schicke sie in Unterhosen wieder los. Man muss auch erkennen, wann sich Schimpfen ohnehin nicht lohnt.

Und jetzt, frage ich Beanie und schaue begeistert dem Baby zu, wie es im Kinderwagen sitzt und laut schnorchelnd einen Apfel ablutscht. Jetzt laufen wir, bestimmt der, und ich sage, wohin wir laufen. Also startet die Karawane, läuft links und rechts und kommt irgendwann in Chinatown an. Chinatown in Sydney ist wie eine Parallelwelt, in der alles spannend ist, weil man nichts versteht. Wir laufen an Apotheken vorbei, in denen getrocknete Hühnerfüße und Kräuterbündel im Schaufenster hängen, an Restaurants mit knallbunten Bildern in der Auslage und an Papeterien, in denen das gesamte Sanrio-Universum vertreten ist: Hello Kitty, Mimmy, Cinnamoroll, Marumofubiyori und - Mimimis Liebling - Keroppi. Hier verbringen wir zehn Stunden bzw. drei Sekunden je nach Betrachter. Ich muss mehrere Stifte kaufen, die das Baby in eine unbeobachteten Moment aus dem Kinderwagen heraus geangelt und befühlt hat. Sprich: sie sind angelutscht. Jetzt Frozen Joghurt, entscheidet Beanie. Falls jemand das Konzept von Frozen Joghurt nicht kennt: Man füllt sich seinen Becher selber an einem Zapfhahn mit sovielen verschiedenen gefrorenen Joghurtsorten, wie man will und streut sich hinterher Toppings drauf. Bezahlt wird nach Gewicht. Frozen Yoghurt in Chinatown ist toll, weil man ja keine Ahnung hat, welchen Geschmack man sich aussucht und die Toppings ganz anders aussehen. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sich Dark Vader beim letzten Mal gepuffte Ameisen über ihren Frozen Joghurt gestreut hat, der im besten Fall Lychee-Geschmack hatte und schlechtestenfalls so geschmeckt hat wie der Fluff zwischen Elly's Zehen. Bestimmt zwanzig Minuten lang löffeln sich die Kinder quer durch ihre und andere Becher und versuchen herauszufinden, ob man getrocknete Kakerlake von Keksstücken unterscheiden kann. An den Konsens kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber daran, dass Dark Vader frittierte Speckschwarte in ihrem Becher gefunden hat und es ganz toll fand.

Mittlerweile steht über uns schon die Nachmittagssonne und obwohl Mimimi auf ihren Speckbeinen tapfer marschiert, wird sie müde. Chinatown kann die Ausmaße von COVID 19 nicht gut verstecken, viele Geschäfte sind leer, und wo sonst den ganzen Tag Gewimmel herrscht, ist es merklich ruhiger. Wir laufen weiter, gehen rechts und links und sind irgendwann wieder auf der George Street angekommen, die hier nicht glitzrig, sondern aufregend und anders ist. Seid ihr müde, frage ich. Alle nicken, aber ich merke, dass keiner von unserem Urlaubstag loslassen will und über die Heimfahrt nachdenken möchte. Also laufen wir weiter und schauen in die Fenster der asiatischen Bäckereien, in der es die spannendsten Varianten rund um Ratten-Kuchen gibt, denn: 2020 ist das Jahr der Ratte. Und irgendwie ist das passend, finde ich. Wenn man was über seine Kinder lernen will, dann muss man mit ihnen rausgehen, unterwegs sein. Das fällt mir einmal mehr auf, denn ich kann daheim eine Million mal fragen, was es so gibt und nie sagt jemand was. Hier, zwischen Verkehrslärm, blutrotem Rattenkuchen und Ugg Boots im Marienkäfer-Look finden meine Kinder ihre Stimme. Ich erfahre, dass Elly es traurig findet, dass er so schön schreiben kann und sein Lehrer aber denkt, es sei wichtig, so zu schreiben wie alle anderen. Dass Dark Vader so lange spart, bis sie sich einen Hund kaufen kann und dass es dann ein Hund wird wie "Bear", der Hund eines Jungen aus der Schule. Ich muss ein bisschen schlucken, denn: "Bear" ist ein 60kg-Berner Sennhund. Ich höre, dass Linus mir nicht erzählt, wie groß seine Sehnsucht nach der Schweiz, Europa und seinen Großeltern ist, stattdessen aber sagt, dass es ein bißchen wie sterben ist, wenn Menschen, die man sehr mag, einen langsam vergessen. Ich denke an Europa und frage mich, wer sich noch daran erinnert, wie ich rieche und lache und es sich anfühlt, wenn man den Arm um meine Schulter legt. Im Glas der Schaufenster sehe ich meine Karawane: Eine Mama mit Kinderwagen, ein Kind schiebend, vier Kinder im Schlepptau. Mit fünf Kindern allein unterwegs zu sein, hat viel mit Surfen zu tun. Im Moment sein, nicht gegen Strömungen kämpfen, unten drunter wegtauchen, Kraft sparen.

Ich bin müde, sagt Beanie, ich will aber nicht heim. Können wir noch in den Buchladen? "Der Buchladen" ist die größte Filiale von Kinokunya, einer japanischen Buchhandelskette und mein ganz persönlicher Himmel. Hier verbindet sich die Auswahl und Vielfalt großer Läden mit den persönlichen Empfehlungen, den Schrullitäten und der Beratung von Kleinstgeschäften. Hier kann man Mangas anschauen, sich mit Büchern über die neuesten japanische Strickmuster versorgen (fast hätte ich mir ein Buch über das Häkeln von Kawaii-Lebensmitteln gekauft .. also Donuts mit Gesicht und so), Tokidoki-Überraschungs-Einhörner aussuchen und vor allem Bücher anschauen. Beanie dürfte sich eigentlich ein Buch aussuchen, gibt aber an Elly weiter, der sich wiederum nicht entscheiden kann zwischen einer Coco Chanel- und einer Anne Frank Biografie für Kinder. Am Ende kaufen wir beide Bücher und dazu noch ein Buch mit Stickmustern aus Japan (möchte jemand, dass ich ihm einen freundlich lächelnden Kaugummiautomaten aufs T-Shirt sticke? Bitte melden!). Seit Elly lesen lernt, ist auch Mimimi eifrig beschäftigt. Was steht da, fragt sie, sucht mit dem Finger nach spannenden Zeichenkombinationen und ist überrascht, dass da mal "beetroot" und mal "Zitronenbonbon" steht. Zitronenbonbon wiederholt mein kleines Mädchen und befühlt das Wort so andächtig im Mund, als könnte sie das Bonbon wirklich schmecken.

Jetzt aber, sage ich und bin traurig. Schoko-Laden, fragt Dark Vader? Ich will nicht in den Schoko-Laden, der eigentlich eine Super-Luxus-High End-Schoko-Boutique im Queen Viktoria building ist - aber ich bleibe dem Plan treu, dass heute Beanies Tag ist. Beanie, frage ich, magst du? Wir überqueren die Straße, sechs Menschen in der großen Stadt. Und stehen vor dem Schaufenster, in dem sich die Schoko türmt. Vier Kinder besprechen aufgeregt, was am Schönsten ist und sicherlich am besten schmeckt, während das Baby seinem Spiegelbild zuwinkt. Ich aber schaue auf das Café neben dem Schoko-Laden. Denn es ist das Lieblingscafé des Super-Opas. Mein Papa, das muss man wissen, sucht sich an jedem meiner Wohnorte seit Jahrzehnten immer ein Lieblingscafé aus und tut dann so, als habe man es nur für ihn gebaut, als sei er der einzige Gast und als habe noch nie irgendwer sonst am Tisch XY gesessen, Kuchen 123 gegessen und dabei die Aussicht auf ABC bewundert. Er tut das so nachdrücklich, dass man es ihm ohne Nachfragen einfach abkauft. (Außer der Helden-Oma, die sich immer über die ständige Kaffee-Trinkerei beschwert und lieber 40 km am Tag rumlatschen will.) In Dark Vader jedenfalls hat er eine Gesinnungsgenossin. Da ist Opas Café, brüllt das Kind in bester Stadionsprecher-Manier und wird dann ganz ruhig. Denn Opas Café ist geschlossen. Wo geht denn der arme Opa jetzt hin, wenn er wiederkommt, Elly bricht in Tränen aus. Mein Opa, weint er, meine Oma, ich werde sie nie mehr wiedersehen. Doch, Schatz, ich fahre ihm durch seinen Kopf-Wuschel. Schoko, lenke ich ab und schäme mich für so ein billiges Manöver. Über die Köpfe seiner Geschwister sehe ich, dass sich Beanie eine Träne wegwischt und schaue schnell weg. Denn es wäre ihm nicht recht, wenn ich ihn dabei erwische. Also, sage ich marktschreierisch zur Ablenkung, ich kaufe eine kleine Tüte, ihr müsst euch aber einigen. Ich weiß nicht mehr, was sie sich aussuchen - wohl aber, dass sie so intensiv diskutieren, dass der Schoko-Mitarbeiter Mitleid mit ihnen hat und jedem mehrere Proben zukommen lässt. Dann ist es aber auch wirklich Zeit zum Heimgehen.

Beim Vorbeigehen sehe ich den Super-Opa und die Helden-Oma im Café sitzen und meine zu sehen, wie der Super-Opa mal wieder erklärt, dass dies der beste Kuchen usw. Aber ich muss mich geirrt haben, denn das Café bleibt dunkel. Liebe reist weit, denke ich. Und dann ist der Moment auch schon vorbei. Auf der Heimfahrt rollt mein Bus über die Harbour Bridge. Schaut mal, das Opa-Haus, ruft Elly. Ich sehe die Oper von Sydney mit ihren geblähten Segeln an uns vorbeiziehen. Das, denke ich, würde ihm gefallen.