Man weiß, dass man endgültig im Ausland lebt, wenn bei Aldi Oktoberfest-Woche angekündigt wird. Und man sich freut, wie ein (deutsches) Schnitzel. Und ich meine das völlig ironiefrei. Normalerweise gehört der Aldi-Katalog nicht zu unseren bevorzugten Familienlektüren, aber einmal im Jahr machen wir da eine Ausnahme.
Spreewälder Whole Pickled Gherkins, 670g, $ 5.96.
Wisst ihr noch, wie die Mama immer von der Schweiz über die deutsche Grenze gefahren ist, um Gurkengläser zu kaufen? Beanie lacht. Seine Geschwister nicht. Wo ist denn nochmal die Schweiz, will Elly wissen. Sweitz? mümmelt Mimimi und man sieht ihr an, dass sie nicht genau weiß, worum es hier geht. Mann, Halb-Schoko, da haben wir mal gewohnt, brüllt Dark Vader. Da gibt's Toblerone! Ah so, Schoko, sagt Halb-Schoko und macht ihrem Spitznamen alle Ehre. Erzähl mal, wie alt wir waren, als wir aus der Schweiz weggezogen sind, fordert mich Dark Vader auf. Du warst im Kindergarten, der da Chindsgi hieß, Beanie war in der zweiten Klasse, Elly war in der Krippe und Mimimi ist noch nicht mal gelaufen. Ich hatte diese nette Lehrerin, sagt Dark Vader, wie hieß die nochmal? Ich muss schlucken. Uns geht es so wie Atreju in der Unendlichen Geschichte - wir fliegen durch unsere Erinnerungen und in den Köpfen meiner Kinder werden die Nichts-Flecken größer. Was mit dem Wegfall von Begebenheiten angefangen hat, frisst sich jetzt schon bis ins Herz von Erinnerungen, die mir lieb und teuer sind. Am nächsten Tag ist Match-Tag und wir stehen auf dem Bolzplatz. Dark Vader hat ihren Lieblingsfreund Bubu gefunden - seines Zeichens 35 kg Berner Sennhundwelpe. Bubus Besitzerin ist Schweizerin und führt ein Stück Heimat schon in der fünften Generation an der - ziemlich dicken - Leine. Ich kann auch Schweizerdeutsch, behauptet Dark Vader auf Englisch. Bubus Besitzerin lacht und erzählt Dark Vader etwas, aber das Gesicht meiner Tochter bleibt leer. Verstahsch mi, fragt die fremde Frau. Und nochmal: Verstahsch mi. Da weint Dark Vader und läuft weg.
Peanut Puffs, 200g, $1.99.
Beanie lernt Emails schreiben und schreibt seinem Freund in Oberrieden. Die Antworten kommen am Anfang schnell, dann seltener und irgendwann bleiben sie aus. Das ist jetzt schon der zweite Sommer, wo wir nicht in der Badi waren, sagt Beanie, bestimmt sind alle anderen immer hingegangen. Da freust du dich aber, Mama, dass du nicht mehr hinmusst? Es ist kein Geheimnis, dass ich das Oberriedener Seebad gehasst habe, wie die Pest. Der ganze Dorftratsch auf gefühlten 20 qm, dazu Parkplatzknappheit, überteuerte Hot Dogs und dann die Schlepperei von Handtüchern, Sonnencreme, Hüten, Spielzeug, was weiß ich. Ich fühle in mich rein. Nein, Schatz, sage ich wahrheitsgemäß, ehrlich gesagt nicht. Und bin selber überrascht. Beanie ist hartnäckig: Aber du hast doch Ende August immer gesagt "Juhu, keine Badi mehr für fast ein Jahr" und dann waren wir besonders lange da, durften einen Lutscher vom Kiosk und auf der Heimfahrt hast du immer ganz laut im Auto gesungen. Was gab's denn da für Lutscher, interessiert sich Elly. Aber du warst doch dabei, sagt Beanie. Nein, war ich nicht, sagt Elly und wurschtelt einen Ast aus seinen Haaren. Doch, wohl, brüllt Dark Vader. Nein, gar nicht, brüllt Elly, da könnte ich mich doch wohl dran erinnern, wenn es da Lutscher gab, denn an Lutscher kann ich mich immer erinnern. Du kannst dich dafür aber immer sehr schlecht dran erinnern, die blöden Stiele zu entsorgen, sage ich kleingeistig, schäme mich dann und bin lieber still. Ist da immer der kleine Zug gefahren, fragt Elly, den Zug mag ich gerne. Beanie schaut seinen kleinen Bruder lange an und legt seine langen dünnen Arme um das zerrupfte Kind. Elly, der Zug ist im Dein-Taunus-Zentrum und das ist da, wo die Oma wohnt. Ach so, sagt Elly und seine Sommersprossen leuchten im kleinen Gesicht, wie das Southern Cross nachts über unserem Dschungelgarten. Abends kommt er nicht zur Ruhe. Ich kann es für dich tragen, Schatz, sage ich ihm, als er sich in seine Mutter Theresa-Schlafposition begibt (Decke über dem Kopf, nur das Gesicht schaut raus). Lass los und ich trage es für dich über Nacht. Ich vergesse alles, flüstert er, aber ich will mich doch erinnern. Also erzähle ich vom kleinen Dorf in der Schweiz vorne mit Blick über den See und dem Wald im Rücken. Davon, dass es ein Seeschwimmbad gibt und sich alle Kinder immer schon lange darauf freuen, dass die Saison losgeht, man dann jeden Tag da verbringt und monatelang die Schwimmtasche nicht auspackt. Davon, dass wir so nah an Zürich gewohnt haben und trotzdem so tief drin in der Schweiz. Von Chindsgibändeln, vom Znüni und Zvieri, vom Grümpi und davon, dass wir das Nachbarsmädchen und seine Familie fast jeden Tag beim Kastanienbaum getroffen haben. Dass wir immer Fremde waren, aber trotzdem daheim. Und irgendwann ist Elly eingeschlafen.
Cookie Butter Spread, 380g, $4.99.
Was soll das denn sein, interessiert sich Dark Vader für ein Glas Brotaufstrich aus Butterkeksen und ist noch immer in den Aldi-Katalog vertieft. Das ist, was sich irgendwelche australischen Planer unter deutschem Essen vorstellen, sage ich. Das habe ich in Deutschland noch nie irgendwo gesehen, stellt meine Tochter fest. Und was steht da auf der Seite: O K T O B E R F E S T. Mama, da steht "Oktoberfest". Ja, sage ich, die können das nicht Deutsche Woche nennen, sonst würden die Australier denken, irgendwer verbrennt Bücher und marschiert hier in Australien zum Reichstag. Ach nee, warte mal, das machen irgendwelche Spinner in Deutschland ja gerade selbst! Was meinst du, Mama? Nix, sage ich. Oder doch, ich meine ganz viel, kann aber von hier aus nichts machen. So ist das, wenn Daheim zu einer Ansammlung von Schlagzeilen auf Spiegel Online wird.
Goldfit Apple Spritzer, 1.5l, $2.49.
Apfelschorle, tirilliert Beanie, völlig uncharakteristisch aufgeregt. Yay! Können wir ganz viel davon kaufen? Ich hab's extra dreimal umkringelt. Also bitte, sage ich, Apfelsaft und Wasser mit Kohlensäure kann ich echt auch daheim im Glas mischen. Das schmeckt nicht gleich, befindet Beanie. Nee, verstehe ich, tut es nicht. Weil es nicht nach daheim schmeckt. Das tut die in der Flasche zwar auch nicht, aber wenigstens steht Apfelschorle drauf. Man kann sich über die Auswanderer in ihren Trachtengruppen wundern, über Leute, die in Australien die Social Media-Foren mit Techniken füllen, wie man am besten Quark herstellt. Über Waldmeister im veggie patch. Über Berner Sennhunde bei einer monatelangen Sommerdurchschnittstemperatur von 35 Grad. Ich bin auf jeden neidisch, der das verwunderlich findet. Denn Heimweh ist, wenn man sich über eine Flasche Apfelschorle freuen kann.