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Kräutertee, Steppengras & ich

von Edda

Ich habe neulich einen sehr schlauen Artikel in der NY Times gelesen, wo es darum ging, dass die amerikanische Autorin nach einem ambulanten Eingriff sehr gerne Schmerzmittel von ihrem deutschen Arzt bekommen hätte. Der aber hat ihr Kräutertee und Ruhe empfohlen - der Körper würde am besten heilen, wenn man ihn in Ruhe liesse. Der Artikel fing als Culture Clash-Text an, hörte aber bei der Autorin selbst auf. Und hat genau da auch bei mir eine Menge angestoßen.

Ich stelle nämlich auch in mir die Tendenz fest, Sachen lösen zu wollen, bei denen eigentlich Warten angesagt wäre. Warten, Hinschauen und: Aushalten. Scheiß-Aushalten ist aber, wie schon an verschiedenen Stellen bemerkt, nicht gerade meine primäre Tugend. Sekundär übrigens auch nicht. Und wenn ich "lösen" sage, dann meine ich damit natürlich nicht "lösen" - sondern ersetzen, wegdrücken, gerne mal mit der Keule draufhauen und im schlimmsten Fall auch einfach wegrennen. Wenn das nur um mich geht, dann ist es nur halb-schlimm, denn dann renne eben auch nur ich Vollgas gegen die Wand.
Wenn es um meine Kinder geht, ist es schon deutlich weniger gut.

Es gibt da dieses ganz schlimme Sprichwort, das man sich gerne über den Küchentisch hängen kann und das dort jeden Tag genauso nervt, wie es wahr ist: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Was für ein Quatsch, sagt jemand hartnäckig in mir, wieso sollte man an Gras auch ziehen? Das wächst von ganz alleine und hinterher muss ich es dann mähen, vergesse die Entsorgung, fahre den nun stinkenden Müll zur Deponie, versaue mir dabei mein Auto und muss das dann putzen. Und während dieser jemand innerlich zu mir spricht, blöke ich meine Tochter an, dass sie sich mal beeilen soll und aufhören muss "Boing, Boing" zu sagen. Jetzt soll sie doch endlich mal mitmachen!!! Was sie mir dazu erzählen will, kann ich vor lauter Stress nicht hören. Meinen selbstvergessen spielenden Sohn klemme ich mir unter den Arm und als ich dabei die Popel-Installation auf seinem Handrücken zerstöre, fängt er an zu weinen. Das hat zwei Folgen: Die Popel kleben an meinem letzten frischgewaschenen Pulli und das Baby wacht auf. Das weint dann auch. Ich schreie und bestimmt steht mir Schaum vor dem Mund. Ich will jetzt das Haus verlassen, wollte das schon seit gefühlten Stunden, keiner macht mit, keiner hilft, überhaupt bin ich nur von nervenden, lahmen, unkooperativen, asozialen Zecken umgeben! Meinen Kindern nämlich. Sehen die denn nicht, dass sie nur mal ein bißchen mitmachen müssten und dann würde das hier wie geschmiert laufen?

Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Das sagt eigentlich nichts über das Gras aus - denn das wächst genau in dem Tempo, in dem es wachsen soll, kann und darf. Es sagt aber eine ganze Menge über den Zieher aus.
Ich habe Kinder bekommen und bin davon ausgegangen, dass man die dann eben erzieht. Da steckt "ziehen" praktischerweise schon mit drin. Und es gibt auch nur eine Richtung in die man ziehen kann - die richtige nämlich. Schließlich bin ich die Mutter und ich werde das ja wohl wissen. Dabei zieht man an seinen Kindern nicht besonders fest, weil man denkt, es sei die richtige Richtung. Sondern weil es die Richtung ist, in die man selber gerade will. Und das meine ich nicht geographisch.

Ich bringe meinen Kindern gerne viel bei und verlange durchaus auch Einiges von ihnen. Aber diese Zieherei macht sie und mich fertig. Und schlußendlich kommt dann gar niemand irgendwohin, weil alle vorher schon fertig sind und heulen. Auch ich.

Um nochmal auf den Artikel in der NY Times zurückzukommen: Keiner hat gerne Schmerzen, jeder funktioniert gerne. Aber in dieser ganzen Funktioniererei darf man nicht vergessen, dass sich noch keiner erfolgreich und nachhaltig selbst überholt hat. Wir dürfen den Bezug zu uns selbst nicht verlieren - und als Eltern dürfen wir schon gar nicht den Bezug dazu verlieren, dass wir es mit Riesen in einem kleinen Gehäuse zu haben.

Nicht jeder Tag kann einer am Meer sein und nicht jeden Tag kann man der Zeit beim Vorbeigehen zuschauen. Aber das Gras wächst jeden Tag ein bißchen und ihm dabei zuzuschauen ist ein Ereignis, um das wir uns nicht selbst bringen sollten.

Wer sich für den Artikel in der NY Times interessiert:
https://www.nytimes.com/2018/01/27/opinion/sunday/surgery-germany-vicodin.html