Mein Sohn und ich spielen Pokemon Go. Für alle, die in den letzten Monaten irgendwo im Keller eingeschlossen waren bedeutet das, dass wir mit einem Handy in der Hand durch die Gegend laufen und mein Sohn alle 30 Sekunden fragt: „Mama, hat es schon BSSSSSST gemacht?“ und ich dann entweder sage „Ja, schau mal“ oder „Nein, die schlafen vielleicht alle noch / essen gerade Mittagessen / sind im Schwimmbad / sitzen auf dem Klo“.
Bei Pokemon Go läuft man eigentlich durch einen Grundriss von Google Maps und ab und zu summst das Handy und dann sitzt da ein Pokemon. Der Witz ist dabei, dass man durch seinen eigenen Ort läuft. Und, dass sobald ein Pokemon auftaucht, das Handy in einen Echtzeit-Modus umschaltet. Man sieht also das, was man gerade sieht (Bürgersteig, Wiese mit Bäumen, Gras, den Kopf seines Papas) und dann taucht da ein Viech auf, dass es so eigentlich nicht gibt. Und das ist auch schon der entscheidende Unterschied zwischen Virtual Reality und Augmented Reality. In der virtuellen Realität bin ich mithilfe von technischen Hilfsmitteln in einer komplett anderen Welt. Im anderen Fall funktioniert das so, dass das Spiel Zugriff auf meine Telefonkamera hat. Nach einer Mischung aus Zufallsgenerator und bestimmten Algorithmen (Menschenansammlungen, belebte Plätze, Nähe zum Wasser etc) werden Pokemons in meine Realität eingestreut. Die unzähligen Server des Spiels kommunizieren mit meinem Telefon und schieben meine Spieldaten in den Daten-Pott der Firma und die Pokemon-Fundorte etc auf mein Telefon. Was ich sehe, wenn Pikachu dann auf einmal direkt neben dem Hundehaufen erscheint, in den ich demnächst reinlaufen würde, ist ein Video, das als Daten über die Telefonkamera in meine Spielansicht implementiert wird. Das ist jetzt sehr vereinfacht beschrieben.
Im Fall von Pokemon Go ist die erweiterte Realität bereits Feuilleton-fähig geworden. Wie steht es aber mit den Büchern?
Während meiner letzten beiden Vertreterreisen war das immer wieder Thema zwischen mir und den Buchhändlern, wobei der Konsens unmissverständlich war: Braucht kein Mensch.
Jetzt bin ich ja Pokemon-geschult und frage mich, ob ich das auch so empfinde.
Wie weit sind denn die Bestrebungen im Bereich Kinder- und Jugendliteratur überhaupt schon?
Es gibt Schulbuchverlage, die Schulbücher mit digitalen Inhalten anreichern, um so Lerninhalte besser vermitteln zu können.
Aber auch im klassischen Kinder- und Jugendbuch ist der Schritt gemacht: Bilderbücher werden mit Sequenzen angereichert, die eine Geschichte aus ihrem angestammten Rahmen heben sollen. Noch nicht in der breiten Programm-Masse, aber bei einigen Verlage, die zu den Marktführern gehören. Das erhöht den Druck auf alle anderen, auch nachzuziehen.
Inhaltlich hat das eigentlich praktisch keine Auswirkung: Ich halte mein mobiles Gerät über eine Buchseite und bekommen ein goodie. Das können Geräusche, Animationen oder 3D Bilder sein. Anders als beim allgegenwärtigen TipToi muss ich dafür keinen bestimmten Punkt anvisieren, sondern es reicht, die jeweilige Seite anzulaufen.
Und genau da ist noch mein Problem. Ich finde schon, dass das im Moment eine Anreicherung ist und keine zwingende Erweiterung. Die Geschichte wird ja nicht auf einer anderen Ebene weitererzählt. Das aber wäre es, was mich interessiert.
Ich finde Bücher perfekt. Als Produkt, als Medium für Geschichten. Sie geben genausoviel vor, wie es braucht, um einen reinzuziehen und lassen genug Platz für Eigenes.
Eine Erweiterung wäre es, wenn sich eine völlig neue Geschichte in einer ganz anderen Ebene entfaltet. Ich glaube aber eben auch, dass man solche Geschichten vorab so konzipieren sollte. Und nicht erst hintendran noch was dranschraubt, was es eigentlich nicht braucht. Das ist Spielerei und dafür brauche ich dann ja auch kein Buch anzuschauen, sondern kann nochmal zum nächsten Pokestop laufen.
Es ist wie so oft im Buchbereich, wenn bahnbrechende Neuerungen anstehen. Dann werden die verschlagwortet und tauchen überall auf, keiner weiss so recht, keiner glaubt dran und dann machen es alle doch irgendwie.
Im Fall der erweiterten Realität würde ich mir den Fortschritt noch nicht mal so sehr auf ein bestimmtes Buch beschränkt wünschen. Warum schicken Verlag keine erweiterten Vorschauen raus, wo man mit dem Handy über die Vorschau geht und dann Elemente eingespielt werden: Symbole, Musik, vielleicht sogar eine digitale Schnitzeljagd quer durch die Vorschau. Dieser Gedanke beglückt mich. Anstatt mich durch hunderte rutschiger Seiten durchzublättern und ständig zu denken, dass sich das doch alles gleich anhört, würde mich das Kopfportrait einer Autorin anschauen, die in ihrer Originalsprache von ihrem neuesten Liebesroman erzählt. Oder bei einem Reiseroman würde sich eine Weltkugel mit eingezeichneter Reiseroute entfalten.
Oder – und das fände ich auch super – man verschickt angereicherte Leseproben, weil Leseproben per se ja immer die Pest sind. Und wenn man die anreichert, dann könnte da was Spannendes draus werden und man will wirklich das Buch lesen und denkt sich nicht, dass es so ätzend ist, wenn man jetzt bis Seite 40 gelesen hat und dann kauft man das Buch und fängt dann wieder von vorne an.
So, und jetzt gehe ich noch ein bisschen auf die Jagd nach Knuddeluff und Konsorten. Weil es Spass macht und die Sonne scheint.