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Tortured soul in residence

von Edda

Writers in residence ist ein Konzept, bei dem man schreibenden Künstlern den Aufenthalt an einem bestimmten Ort und über einen bestimmten Zeitraum ermöglicht - und das kostenfrei.
Tortured soul in residence hingegen ist ein Phänomen, das man vor allem bei uns daheim antreffen kann. Wie das kam? Genau so:

Als ich den Iren zum allerersten Mal sah, hatte er einen braunen Mantel an und aus der Manteltasche ragte zusammengerollt der Economist. Aus seinem Gesicht hingegen ragte - eher unzusammengerollt - ein Gesichtsausdruck, den ich in den folgenden zehn Jahren gut kennenlernen durfte, der seine Wirkung aber bis heute nicht verfehlt. Familienintern nennen wir ihn The Melancholic Soul. Es handelt sich um eine Mischung aus Seemann ohne Hafen, "Slow Show" von The National und der irischen Küste. Wäre der Ire eine Meerjungfrau, die Schiffe würden in Scharen auf Grund laufen. Aber lassen wir das.
Ich im übrigen kann den Blick weder selbst einsetzen noch kopieren. Bei den peinlichen Versuchen hat mich zumeist jemand nach wenigen Minuten gefragt, ob mir was wehtut. Man hat es also im Blut oder eben nicht. Ich habe es offensichtlich nicht, der Ire schon und dann haben wir Kinder bekommen.

Im Wohnzimmer meiner Mama steht ein Bild von Beanie. Darauf sitzt das Kind mit dem Rücken zum Fotografen (ich in diesem Fall) am Seeufer des Zürich Sees, auf seinem Kopf thront ein riesengroßer Schlapphut mit Palmen. Beanie schaut in die Ferne, der Welt entrückt. Als meine Mutter das Bild zum ersten Mal sah, brach sie fast in Tränen aus und sprach von der unglaublichen Empfindsamkeit dieses Kindes und seiner sensiblen Seele, die man ja schon auf dem Bild sehen könnte. Oh Gott, habe ich gedacht, der wird ja wohl nicht auch ...
Ein paar Jahre später besuchen Dark Vader und ich den Ältesten am Schulbesuchsmorgen. In der großen Pause halten wir uns im Hintergrund und beobachten das rummelige Treiben auf dem Pausenhof. Auf einer Picknickbank sitzt mutterseelenallein Beanie, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, aber heftig kauend an seinen Mandeln mit Schale. In unserer Nähe steht eine Gruppe gleichaltriger Mädchen und beobachten offensichtlich den zufrieden vor sich hin mampfenden Jungen. Hach, seufzt eines davon. Schau mal, da sitzt der Beaniiiiiieeeeee, sagt die andere. Dann verstummen sie alle und widmen sich der weiteren Betrachtung unter einigem Kichern und Seufzen.
Was stimmt denn mit denen nicht, fragt mich Dark Vader. Keine Ahnung, sage ich.


Abends schaut Dark Vader mit waidwundem Blick auf den strahlenden Sonnenschein draußen. Tut dir was weh, Schatz, frage ich sie. Nee, sagt Dark Vader, nimmt ihr Laserschwert, streicht das schwarze Cape glatt, flattert davon und ist beleidigt. Über ihre Schulter schaut mich Hasi anklagend an.

Ich finde mich damit ab, dass es im Leben nicht immer gerecht zugeht. Wenn alle The Melancholic Soul könnten, würde es nicht mehr wirken. Und Dark Vader und ich können andere tolle Sachen: super Krach machen, wild tanzen, Drachen töten.

Dann fahre ich in den Sommerferien alleine mit dem Baby und Elly nach Deutschland zu meiner Mama. Der Sommer ist heiß und wir verbringen die Tage im Freibad. Eines sonnigen Vormittags sehe ich Elly im Becken stehen, mit geringeltem Ganzkörperschwimmanzug, Schwimmweste, pinken Badeschuhen und einem Sonnenhut mit großen Sonnenblumen drauf. Sein Blick geht verträumt gen Westen. Hinter ihm paddeln zwei kleine Mädchen eifrig mit Schwimmflügeln um die Speckarme und schieben unter Kichern kleine Wasserwellen in Elly's Richtung. Der betrachtet derweil Universum, das Schicksal der Menschheit und die Schönheit des Seins aus weiter Ferne. Die Mädchen hinter ihm kleben währenddessen schon fast an seinem geringelten Rücken.
Neben mir auf dem Boden hämmert das Baby in einem unbeobachteten Moment entschlossen mit seiner winzigen Sandschaufel eine arme Ameise in Grund und Boden.

 

Was lernen wir aus diesen Szenen? Außer, dass es eine Schweinerei und haarsträubende Ungerechtigkeit ist, dass ich keine solche Wunderwaffe aktivieren kann. Und ich mich jetzt solange vor den Spiegel stelle, bis ich es kann. Oder jemand aufs Klo muss, was wahrscheinlich nur den Bruchteil einer Sekunde dauern wird.

Wir lernen aber auch, dass es wunderbar ist, wenn Jungs waidwund gucken können und Mädchen dafür den Drachen das schuppenbewehrte Fell über die Ohren ziehen. Wenn keiner stark sein muss, dafür aber alle schwach sein dürfen - denn eingeforderte Stärke ist: genau, schwach-sinnig. Es ist meine ganz persönliche Version des Eltern-Himmels, wenn ich kleine Menschen begleiten darf - und nicht in Rollenbilder reinerziehen muss, die für meine Nase zum Himmel stinken. Rock on, Beanie! Feuer frei, Dark Vader! Gib Gummi, Elly! Aber vor allem: Hau drauf, Baby!